Raphael Müller – ein ganz besonderer Buchautor

Raphael Müller ist Autist und kann weder sprechen noch laufen. Keiner traute ihm zu, dass viel mehr in ihm stecken könnte und er sogar einmal Bücher veröffentlichen würde. Wie es dazu kam, fragte die KUCK-Redaktion seine Mutter und ihn selbst und bekam erstaunliche Antworten …

Raphael Müller © Tino und Ulrike Müller
Raphael Müller © Tino und Ulrike Müller

Für Ulrike Müller und ihren Mann war Raphael zu Anfang ein ganz normales Neugeborenes. Als ihr Baby ein halbes Jahr alt war, entdeckten die Ärzte dann eine starke Hirnschädigung und auf einmal war alles anders. Es stellte sich heraus, dass Raphael nie würde laufen und sprechen können und seinem Leben sehr enge Grenzen vorgegeben sein würden. Aber vor allem seine Mutter gab so schnell nicht auf …

Heute ist Raphael Müller durch seine Buchveröffentlichungen einem größeren Publikum bekannt und besucht als Gasthörer an der Universität Philosophie-Vorlesungen. Er hat zusammen mit seiner Mutter einen Weg gefunden, die ihm gesetzten Grenzen lebensbejahend auszufüllen und zu überwinden.

Die KUCK-Redaktion hat für die aktuelle Magazin-Ausgabe den Dialog gesucht: mit Raphael auf schriftlichem Wege, mit seiner Mutter im Interview. Zwei Dialoge, die allein formal sehr unterschiedlich sind, aber viel darüber verraten, welche Wunder geschehen können, wenn Menschen nicht so schnell aufgegeben werden!

Lesen Sie hier einen Ausschnitt aus dem Gespräch mit Raphaels Mutter. Den vollständigen Beitrag mit Raphaels Antworten finden Sie im aktuellen KUCK 59.

Schulkarriere © Tino und Ulrike Müller
Schulkarriere © Tino und Ulrike Müller

Liebe Ulrike Müller, Sie haben Ihren Sohn Raphael anfangs als ganz normales Neugeborenes erlebt und nicht geahnt, dass er anders ist als andere Babys. Wann hat sich das geändert?

Ungefähr ein halbes Jahr nach der Geburt. Bei der U5 hat der Kinderarzt bemerkt, dass da irgendwas nicht stimmt. Wäre Raphael nicht unser Erstgeborener gewesen, dann wäre uns vielleicht vorher schon was aufgefallen. Aber wir hatten keinen Vergleich. Die Zeit bis dahin habe ich als echt schön empfunden, das erste halbe Jahr war einfach unbeschwert. Als es dann losging mit den vielen Untersuchungen, war es dann schon so, dass ich dachte, jetzt zieht mir jemand den Teppich unter den Füßen weg. Man hat mir gesagt, ich muss nun stark sein für mein Kind, der Raphael der braucht mich jetzt.

Ja, das ist sicherlich nicht leicht gewesen – festzustellen, dass Ihr Kind, wie man so sagt, „behindert“ ist. Was hat Ihnen in dieser Zeit geholfen?

Keine Ahnung. Einfach das Vertrauen, dass es einen guten Gott gibt und dass alles schon irgendwie seinen Sinn haben wird. Egal ob ich das aus meiner Perspektive jetzt so erkennen oder wahrnehmen kann oder nicht. Und dass ich meinen Mann an meiner Seite hatte, das war schon gut.

Auf einem Zeitungsworkshop © Angelina Bürth, 2012
Auf einem Zeitungsworkshop © Angelina Bürth, 2012

Was möchten Sie Eltern sagen, die in einer ähnlichen Situation sind, die womöglich Selbstzweifel und Ängste haben?

Nicht aufgeben! Gott vertrauen! Nicht unbedingt jede ärztliche Diagnose für voll nehmen. Dran glauben, dass das Kind besser ist. Ich glaube, dass Gott sich nicht geändert hat in den letzten 2 000 Jahren. Er hat damals geheilt und er ist auch heute noch dazu in der Lage. Krankheit ist nichts von Gott Verordnetes – das sind Angriffe von einer ganz anderen Seite. Also: Nicht aufgeben!

Wann haben Sie herausgefunden, dass mehr in Raphael steckt, als die Ärzte Ihnen weismachen wollten?

Raphael wurde immer verglichen mit anderen, gesunden Kindern. Niemand konnte mir sagen, wie gut er im Vergleich zu seinem Befund ist. Das Vergleichen mit anderen Kindern hat mich damals so gar nicht weitergebracht. Wie soll ich sagen – ich bin ja selber in einem medizinischen Beruf tätig –, Prognosen sind manchmal pädagogisch nicht sinnvoll. Es gibt ja Placebo- und eben auch Nocebo-Effekte, also dass bestimmte „Erwartungen“ nur deshalb eintreten, weil man mit diesen rechnet. Selbst wenn ein Befund wirklich ernst ist: Es gibt so was wie Spontanheilungen. Und diese Hoffnung sollte man niemandem nehmen. Es macht einen deutlichen Unterschied, ob man jemandem sagt: „Sie haben nur noch soundso viele Monate zu leben“, oder ob man dem Patienten sagt: „Hey, soundso viel Prozent der Erkrankten schaffen das!“ Dann sieht man sich selbst nämlich zu dieser Gruppe zugehörig und verhält sich auch anders. Es gibt eine Chance, egal wie negativ es ausschaut. Ich denke, es ist wichtig, nicht immer auf die äußeren Umstände zu schauen, sondern den Blick nach oben zu richten. Wir tendieren alle dazu, unseren Gott anzujammern, wie groß der Berg vor uns ist. Jesus hat gesagt, wir sollen lieber direkt zum Berg sprechen. Ich denke, es ist sehr viel wirkungsvoller, dem Berg zu erklären, wie groß Gott ist. Und dass dieser im Vergleich dazu gar nichts ist. Also einfach die Perspektive wechseln. Egal was einem entgegenkommt. Ich denke, wir müssen die Sache so nehmen, wie sie kommt, und so lange drehen und wenden, bis wir die Schokoseite finden. Und dann sollten wir die Sache mit der Schokoseite nach vorne ins Regal stellen!

© Darius Ramazani Photography, Berlin, www.ramazani.de
© Darius Ramazani Photography, Berlin, www.ramazani.de

Welches ist Ihrer Meinung nach die herausragendste Begabung Ihres Sohnes?

Natürlich ganz klar sein Sprachentalent, also Sprache selber zu erlernen und mit Sprache zu jonglieren, Gedichte und poetische Texte zu schreiben. Aber davon abgesehen: Raphael hatte immer den Glauben an Gott, wenn ich ihn nicht mehr hatte. Immer wenn ich tief im Keller saß, hat mein Kind mich getröstet. Das fand ich schon erstaunlich. Da ist er ziemlich unverbrüchlich und hoffnungsvoll.

Wie war das für Sie, als Sie das erste Mal mit Raphael das Gestützte Schreiben ausprobiert haben? Mit welchen Erwartungen sind Sie darangegangen?

Wir hatten im Umfeld ein anderes Kind erlebt, das geschrieben hat, und ich hatte Raphaels Reaktion darauf gesehen. Deswegen war da durchaus Hoffnung, dass er so etwas möglicherweise lernen kann. Allerdings war mir nicht klar, dass er es sogar schon konnte. In der Schule hatte man mir gesagt, es mache keinen Sinn, mit ihm die Buchstaben zu üben, und ich hatte regelrecht um Hausaufgaben gebettelt. Gleichzeitig hatte ich erlebt, dass Raphael Freude daran hatte, diese Aufgaben zu erledigen. Und ich dachte mir: Wenn die das nicht in der Schule mit ihm üben, dann mach ich das eben selber! Und wir probieren das mit dem Schreiben zumindest mal aus. Das Gestützte Schreiben war eine Möglichkeit, mit ihm Buchstaben und Wörter zu üben. Und ich war dann ganz schön überrascht, dass Raphael mir schon innerhalb der ersten Woche ganze Wörter und Teilsätze hingeschrieben hat.

Eine Auswahl seiner Veröffentlichungen
Zwei seiner zahlreichen Buchveröffentlichungen: Raphael Müller: Ich fliege mit zerrissenen Flügeln (Buch – Klappenbroschur) – fontis Verlag ; Schön ohne Aber (Buch – Klappenbroschur) – SCM Shop.de (scm-shop.de)

Gibt es Momente der Ausgrenzung von Raphael, die Sie besonders ärgern? Und im Gegenzug: Welches waren besonders positive, integrierende Erfahrungen?

Es ist tendenziell immer leichter geworden. Am Anfang war es schon ein bisschen holprig, den Weg auf die normale Schule zu schaffen. Er war ja sozusagen immer nur Gast. Damals, als es losging mit dem Schreiben, haben wir in der Grundschule gefragt, ob die es sich vorstellen können, einen Gasthörer zu nehmen. Dafür waren die Leute immerhin offen. Und auch später haben wir das Glück gehabt, hier im Ort ein Gymnasium zu haben, wo er zumindest als Gast hingehen durfte. Das war wirklich Glück. Ganz anders lief es in der Lebenshilfe. Man sagte uns: Das wäre doch ein geschützter Rahmen, wo er nicht angestarrt wird von den anderen. Raphael hatte mir aber damals geschrieben: „Ich bin ein bunter Hund, ich bleib ein bunter Hund und ich will nicht in einem Ghetto leben!“ Er wollte auf eine normale Schule, er wollte lernen. Er wollte mitkriegen, wie die anderen Schüler reagieren. Dort ist er dann aufgeblüht. In der Lebenshilfe dagegen hat er sich eher verweigert, war irgendwann krank auf Kommando, schon als er die Tür der Lebenshilfe sah. Dann bekam er Fieberanfälle, Schreikrämpfe, Panikattacken, alles Mögliche. Auf der anderen Seite hat er sich total gefreut, wenn er wieder in die Grundschule durfte. Irgendwie hat Raphael in keine Schublade richtig reingepasst. Körperlich ging die Schule nicht, aber mit dem Lernen hatte er keine Probleme. Andersrum war er zu schlau für die Lebenshilfe. Keine Frage: Die machen eine tolle Arbeit in der Lebenshilfe, aber da hat er irgendwie nicht ins Schema gepasst. Die sind dort hauptsächlich darauf ausgerichtet, dass Leute Probleme dabei haben, Dinge zu erlernen. Dass ein Kind dagegen Dinge verweigert, weil ihm langweilig ist, war für einige dort nicht nachvollziehbar. Er hatte damals häufig bei leichten Aufgaben gebockt und die haben das so interpretiert, dass diese zu schwer für ihn sind. Zu Hause dagegen habe ich festgestellt: Je schwerer die Aufgaben sind, die ich ihm gebe, desto motivierter ist er. Zu Hause hat er mitgearbeitet. Ich schätze, da sind einfach zwei Welten aufeinandergetroffen. Da war er dann ein richtiges Trotzköpfchen, was es mir leider auch nicht immer leichter gemacht hat ... Ähnlich war es übrigens auch beim Arzt damals. Dort hat man mich gefragt, ob er denn die Farben unterscheiden könne. Ich konnte das damals nicht beweisen. Aber offensichtlich hatte er die Fragen des Arztes sehr wohl verstanden. Denn am nächsten Tag habe ich gesehen, dass er nur noch mit blauen Legosteinen gespielt hat. Aber als ich das wiederum dem Arzt vorführen wollte, war Raphaels Reaktion: Nö, wieso? Ich hab doch schon gezeigt, dass ich das kann ... (lacht)

Was würden Sie anderen Menschen im Umgang mit besonderen Menschen wie Raphael raten?

Nie unterschätzen! Genau hingucken! Immer einen Ticken weitergehen, mehr zutrauen, als man eigentlich gesagt bekommt. Und wenn es so rum nicht klappt, dann einfach einen anderen Weg finden. Wenn sprechen nicht geht, es mal mit den Händen oder Füßen probieren. Aber nicht aufgeben. Wenn jemand nicht mit gesprochener Sprache antwortet, dann heißt das nicht, dass er nicht versteht. Das ist ein bisschen wie bei einem Computer: Es kann sein, dass die Software läuft, aber der Bildschirm schlicht nicht funktioniert und nichts anzeigt. Und wenn wir dann hergehen und sehen, dass der Bildschirm schwarz ist und daraus schließen, dass der Computer kaputt ist, haben wir schlicht eine falsche Diagnose gestellt.

Den vollständigen Beitrag inkl. Raphaels Interview finden Sie im aktuellen KUCK-Magazin 59 auf den Seiten 28–37. Sie können ihn hier direkt herunterladen.

Werfen Sie einen Blick ins KUCK 59!
Raphael Müller im aktuellen KUCK 59 – jetzt lesen!