„Das Allerwichtigste ist, dass man sich traut, etwas Neues zu lernen.“

Was passiert in unserem Gehirn, wenn wir uns an etwas erinnern? Wie lernen wir am effektivsten? Und was haben wir Menschen der Künstlichen Intelligenz voraus? Antworten auf diese Fragen gibt es im neuen KUCK-Magazin: von dem Neurobiologen Prof. Dr. Martin Korte ...

Prof. Dr. Martin Korte
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Möchten Sie mir verraten, was Ihre früheste Erinnerung aus der Kindheit ist?

Ja, gerne. Da war ich, glaube ich, viereinhalb, schon fast fünf und saß weinend im Kindergarten. Am ersten Tag hat meine Mutter meine große Schwester und mich, die ein Jahr älter ist, dort abgeliefert. Das war unser gemeinsamer erster Kindergartentag. Und was ich erinnere, ist nicht sehr glücklich. Das hat sich dann anders entwickelt, sodass ich ab dem zweiten Tag sogar gerne hingegangen bin, aber der erste Tag, also sozusagen meine erste Erinnerung, ist tränenerfüllt. Meine Schwester hat – sagt sie zumindest –, noch Erinnerungen ab dem dritten Lebensjahr, also etwas früher als ich. Heute gehen wir davon aus, dass man ab dem dritten Lebensjahr tatsächlich autobiografische Erinnerungen haben kann. Alles davor sind häufig nur Geschichten, die man gehört hat, und gar nicht eigene Erinnerungen.

Sie sprechen hier von sogenannten „False Memories“, nicht wahr? Wie sind diese falschen Erinnerungen, die wir manchmal abgespeichert haben, zu erklären? Denkt sich das Gehirn dann frei was aus? Wie funktioniert das?

Zum Glück nicht. (lacht) Wir haben eigentlich ein relativ gutes Gedächtnis, aber es können sich in diese Gedächtnissysteme immer auch Fehler einschleichen und am merkwürdigsten sind dabei Erinnerungen, die man selber gar nicht gehabt hat, sondern die einem quasi eingepflanzt wurden. Das können eben frühe Kindheitserinnerungen sein, weil man gerade als Kind sehr anfällig ist für suggestive Fragen oder auch für Geschichten, die erzählt wurden. Sogar als Erwachsene haben wir noch Schwierigkeiten, uns zu erinnern, wo eigentlich die Quelle einer Information her ist, was dann, gerade im Hinblick auf Fake News, manchmal ganz, ganz schwierig ist. Das Gehirn kann sich in solch einem Fall nicht genau daran erinnern, wo und wie man das gehört hat.

Das andere ist: Unser Gehirn speichert Informationen immer wieder neu ab, wenn wir etwas aus früheren Zeiten erinnern oder darüber reden. Und damit reisen wir jedes Mal de facto nicht zurück zu dem eigentlichen Ereignis, sondern zu dem letzten Mal, als wir darüber geredet haben. Und während wir über etwas reden, wird das wiederum neu abgespeichert. Dabei können auch neue Informationen mit abgespeichert werden: zum Beispiel eine Frage, vielleicht auch andere Gefühle, andere Gerüche. Und diese neuen Einflüsse verfälschen dann Erinnerungen aus früheren Jahren. So kann es auch, zum Beispiel wenn man mit seinen Geschwistern über Dinge redet, die viele Jahre her sind, zu Unstimmigkeiten kommen, weil man sich schlichtweg an Details anders erinnert. […]

Wie funktioniert das Erinnern?
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Mal eine Frage zu anderen Gedächtnisfehlern … Manchmal können wir uns an Dinge, die offensichtlich besprochen wurden, nachträglich nicht mehr erinnern. Die scheinen wie ausgelöscht. Wie ist so etwas zu erklären?

Wir sprechen innerhalb der Forschung hier von „Attentional Blinks“, also von Aufmerksamkeitslöchern. Die können entstehen, wenn die Gedanken kurz abschweifen, zum Beispiel wenn wir tagträumen. Die passieren typischerweise aber auch, wenn man kurz auf seinem Handy eine Nachricht checkt und meint, man würde währenddessen noch zuhören. Das ist dann aber eben nicht der Fall. Das Gehirn ist extrem schlecht im Multitasking. Das heißt, es ist in den meisten Fällen eine Illusion, zu meinen, wir könnten einer weiteren Tätigkeit nachgehen, während wir anderen Menschen zuhören. Häufig verpasst man dann wichtige Informationen, über die geredet wurde. Das Spannende ist: Unser Gehirn verbirgt das vor uns, ähnlich wie bei einem blinden Fleck im Auge. Den sehen wir nicht, weil er automatisch ergänzt und ausgefüllt wird. So in etwa ist das auch, wenn wir von einer Tätigkeit zur anderen wechseln. Dazwischen vergehen einige Sekunden, währenddessen uns das Gehirn vorgaukelt, dass wir noch zuhören oder dass wir uns schon dem neuen Medium zuwenden. Tatsächlich sind wir in einer Art Zwischenstadium und merken gar nicht, was wir alles verpassen. […]

Welche Bedeutung hat das für erfolgreiches Lernen? Heißt das, ich müsste versuchen, alle Ablenkungen auszuschalten, um möglichst viel oder möglichst genau bei der Sache zu sein? Oder was empfehlen Sie?

Ehrlich gesagt genau das. Es klingt ein bisschen altbacken, als würde das einem die Mutter raten oder die Oma: dass man seinen Schreibtisch aufräumt und dort nur die Dinge liegen hat, die man auch zum Lernen und Arbeiten braucht. Aber tatsächlich zeigen Studien, dass wir dann wirklich effektiver sind. Wir sind übrigens auch schneller mit dem Lernen und Arbeiten fertig, sodass wir anschließend früher Zeit haben, der Welt über Social Media wieder mitzuteilen, dass es uns noch gibt. Das heißt konkret: Im Blickfeld sollten nur die Dinge liegen, die wir auch zum Lernen oder zum Arbeiten brauchen! Studien weisen darauf hin: Selbst wenn ein Smartphone ausgeschaltet auf dem Tisch liegt, hat es schon eine ablenkende Wirkung und kann die Leistungsfähigkeit beim Lernen um etwa 10 % herabsetzen. Das bedeutet, man muss, statt einer Stunde zu lernen, nun sechs Minuten länger lernen, um den gleichen Effekt zu haben. Diese Zeit kann man natürlich besser woanders nutzen! Wichtig ist auch, alles, was einen stören könnte, auszuschalten! Auch hier gibt es Studien, die zeigen, dass ein deutscher Arbeitnehmer innerhalb von 40 Sekunden auf eine eingehende E-Mail-Benachrichtigung klickt. Dabei wird er jedes Mal aus seiner Tätigkeit herausgerissen. Wenn man bedenkt, dass 70 % der E-Mails gar nicht für einen persönlich bestimmt sind oder für einen gar keinen Nutzen haben, dann sieht man, wie häufig man sich hier ganz unnötig ablenkt und in seinen Tätigkeiten unterbricht.

Also: Zur Organisation des Arbeitsplatzes gehört mittlerweile nicht nur zu schauen, was vor einem auf dem Tisch liegt, sondern auch Laut- oder Vibrationssignale und E-Mail- Benachrichtigungen abzuschalten!

Effektiver lernen
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Gibt es Tipps für Ältere, wie diese am effektivsten lernen?

Das Allerwichtigste ist, dass man sich traut, etwas Neues zu lernen. Ganz viele ältere Menschen, auch im betrieblichen Kontext oder Senioren im Ruhestand, erzählen mir, sie können dies nicht mehr lernen und jenes nicht, und überhaupt: Das geht alles nicht. Und wenn ich dann zurückfrage: „Haben Sie es denn probiert?“, dann kommt: „Nee, hab ich nicht gemacht, ich kann das ja alles nicht mehr, hab Angst vor Fehlern und so.“ Für ältere Gehirne gilt, der erste Schritt ist der wichtigste: nämlich sich trauen, was Neues auszuprobieren! Das ist der Hauptgrund, warum ältere Menschen nicht mehr lernen. Ich glaub, eine ganz wichtige Botschaft ist – das zeigt auch die Forschung: Man darf sich das Lernen neuer Dinge im Alter noch zutrauen! Das geht durchaus noch. Allerdings geht es langsamer und man braucht manchmal eine hohe Frustrationstoleranz.

Darüber hinaus muss man auch lernen, mit Fehlern umzugehen und aus ihnen zu lernen, indem man sich nicht frustriert abwendet, wenn man etwas falsch gemacht hat, sondern sich fragt: Warum ist das schiefgegangen? Was ist falsch an der Regel, die ich angewendet habe? Also: Man sollte selber bereit sein, an seinen Fehlern zu wachsen. Wir sagen dazu: Man sollte ein dynamisches Selbstbild haben. Das ist vor allem für ältere Menschen wichtig.

Das Zweite ist: Wenn man als älterer Mensch etwas Neues lernt, gilt in noch viel stärkerem Maße, als ich das eben gesagt habe, sich ganz auf das zu konzentrieren, was man macht: sich hinsetzen, keine Ablenkung, alles ausschalten und sich vorher genau überlegen, in welchem Zeitrahmen man was wie lernen möchte. Und man sollte es dann auch aktiv wieder abrufen! Häufig wird unterschätzt, dass junge Menschen sozusagen Profis im Lernen sind. Lernen in der Schule ist, wenn man so will, ihr Beruf. Das heißt, sie gehen dorthin, sie wiederholen das Gelernte und sind darauf fokussiert. Während wir meinen, beim Spülmaschine- Einräumen auch noch nebenbei Italienisch für den nächsten Urlaub lernen zu können.

Also: Ältere Menschen müssen sich auch wieder daran erinnern, wie sie als junge Menschen gelernt haben: fokussiert und konzentriert. Lernen kostet darüber hinaus einfach Zeit, und man muss das, was man lernen möchte, auch immer wieder aktiv abrufen, einbauen, sich vielleicht mit einer Gruppe treffen. Man kann die Schulklasse zwar nicht so einfach imitieren, aber es gibt einen guten Grund, warum die Schule als sozialer Lernraum so wichtig ist: Weil ich mich hier auch mit den anderen über das Gelernte austauschen kann. Wer also Englisch, Italienisch, Spanisch lernen möchte, sollte sich den entsprechenden Speaking-Club dazu suchen oder – auch das geht mittlerweile gut – das Gelernte mithilfe von Apps anwenden. Am besten mit solchen, die einen immer wieder aktiv einbinden und einen zwingen, etwas auszusprechen. Hier gilt „Learning by doing“ genauso wie für jeden anderen Bereich des Lebens. Wir lernen nur das richtig gut, was wir auch tun.

Gemeinsam Neues lernen
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