"Wir müssen mit der Zeit gehen und schauen, was gut daran ist"

Die ehemalige Bundesfamilienministerin Ursula Lehr hat mit ihren 90 Jahren viel erlebt und ist mit ihrer modernen Familienauffassung oft auf Widerstände gestoßen. Die KUCK-Redaktion hat mit ihr über das Miteinander von Generationen gesprochen, sowie über das „Jung“-Bleiben bis ins hohe Alter …

Ursula Lehr © Bello sorriso / WikiCommons
Ursula Lehr © Bello sorriso / WikiCommons

Sie ist Professorin für Psychologie, Pädagogik und Gerontologie. Und sie war von 1988–91 unter Helmut Kohl Bundesministerin für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit: Ursula Lehr, Jahrgang 1930. Die Mutter von zwei Söhnen, drei Enkeln sowie zwei Urenkeln hat sich in den letzten Jahren vor allem auf dem Gebiet der Alternsforschung umgetan und ist eine vehemente Streiterin für die Belange von Senioren. In dem Interview mit der KUCK-Redaktion erzählt sie anekdotenreich von ihren Erlebnissen damals im Ministerium und plädiert ausdrücklich dafür, der älteren Generation die Selbstbestimmung zu lassen. Hier kommt ein Ausschnitt aus dem Gespräch, das im neuen KUCK-Magazin nachzulesen ist ...

Liebe Frau Lehr, wie stehen Sie zu dem Ausspruch "Früher war alles besser", der gerade älteren Menschen gern in den Mund gelegt wird?

Das kann man so nicht sagen. Es war nicht besser, sondern anders! Wir müssen mit der Zeit gehen und schauen, was daran gut ist. Denn vieles ist ja heute auch gut! Vor allem wenn ich an die Digitalisierung denke ... Da gibt es ein Beispiel im Sinne von: "Man muss älter werden, um zu sehen, was sich entwickelt". Damals als ich 1988 das Ministerium übernahm, war das so etwas: Dort schrieb man bislang noch mit der Schreibmaschine, und ich forderte, Computer für alle anzuschaffen. Ich selbst hatte die Jahre davor in Heidelberg am Institut schon einen eigenen gehabt, genauso wie alle meine Mitarbeiter dort. Und so ließ ich auch im Ministerium PCs anschaffen. Daraufhin hatte der Betriebsrat eine Sondersitzung einberufen. Da wurde ich dann furchtbar beschimpft, weil ich doch solche modernen Dinge im Kopf hätte. Und am nächsten Tag fand ich auf meinem Schreibtisch einen Brief, in dem stand: "Über-Fünfzig-Jährigen darf eine Umstellung auf keinen Fall zugemutet werden." – Unglaublich, aber das ist gar nicht so lang her ... Erst später habe ich erfahren, dass diese Abwehr daher kam, dass viele der höher gestellten Männer am Institut Angst hatten, wieder selbst schreiben zu müssen, obwohl sie schon längst die sogenannte Diktatserlaubnis hatten und Texte den Sekretärinnen diktieren durften. 30 Jahre später befasst sich der 8. Altenbericht mit der Einführung Hochbetagter in die digitalisierte Welt …

Das würde es heute wohl tatsächlich so nicht mehr geben. Heute fordert man von Älteren ja sogar, dass sie sich für technische Errungenschaften wie Videokonferenzen und Messengerdienste öffnen. Und trotzdem ist mancher dann vielleicht sogar überfordert …

Das ist individuell sehr verschieden. Ich war 2002 in der Bamberger Gegend zu einem Vortrag in einem Altenheim. Dort gab es eine interessante Dame von 94 Jahren, die hat innerhalb von 14 Tagen gelernt, den Computer voll und ganz zu beherrschen. Ob es voll und ganz war, hab ich nicht überprüft, aber immerhin … Da fragte ich: Wie kommt das? Die Heimleiterin erzählte dann, dass sie einen 12-jährigen Sohn hat, der oft im Heim vorbeischaute. Der hatte von der 94-Jährigen erfahren, dass sie einen Sohn in Australien hatte, mit dem sie nur selten Kontakt aufnehmen konnte. Nur einmal im Monat telefonierte sie mit ihm und freute sich immer auf diese seltenen Telefontage. Das pfiffige Bürschlein ist daraufhin mit dem Sohn in Kontakt getreten und hat sich mit ihm verabredet. So kam der 12-Jährige dann eines Tages mit seinem Laptop zu der Dame und fragte sie, ob sie ihren Sohn sehen wolle. Er öffnete zack, zack Skype und sie sah ihren Sohn, der ja vorbereitet war. Die beiden hatten dann über eine Stunde zusammen gequatscht; er führte seine Mutter in seiner Wohnung herum. Da war die Frau restlos begeistert und meinte: "Und wenn ich meine letzten Kröten zusammenkratze, so einen Apparat kauf ich mir!" Das tat sie dann tatsächlich und bat den 12-Jährigen, ihr 14 Tage lang alles zu zeigen, sodass sie am Ende selbst skypen konnte. Aber nicht nur das: Sie hat auch gegoogelt, E-Mails geschrieben usw. Sie hat mit 94 Jahren angefangen, den Computer zu erobern. Und da sieht man: Motivation ist alles.

Ursula Lehr © Foto privat
Ursula Lehr mit ihren Urgroßneffen © Foto privat

"Bitte lasst den Älteren doch noch das, was sie selber können – auch wenn es länger dauert!"

Ja, und es zeigt, dass die junge Generation durchaus auch gefragt ist, offen auf die Älteren zuzugehen und ihnen die Möglichkeiten zu zeigen. Eine Art Miteinander von Generationen …

Genau! Und dann nicht etwa hochnäsig sagt: Das können Sie ja doch nicht. Sicher ist das eine Sache von beiden, Jüngeren und Älteren. Aber man muss dabei vorsichtig sein – gerade jetzt in Corona-Zeiten –, dass man den älteren Menschen wohlmeinend nicht zu viel abnimmt, sodass sie es verlernen, selbst damit zurechtzukommen. Bitte lasst den Älteren doch noch das, was sie selber können – auch wenn es länger dauert! Wenn es wegen Ansteckung zum Beispiel extrem gefährlich ist, bittet man eben jemand anderen, das zu übernehmen. Man braucht manchmal Hilfe, ganz klar: Aber nur so viel wie nötig, und so wenig wie möglich. Das ist ein Satz, den man dreimal unterstreichen sollte. Was der Mensch noch alleine kann, sollte er auch alleine tun.

Viele nehmen sich vor: Wenn ich in Rente gehe, mach ich ganz viel, reise um die Welt und genieße den Tag. Oftmals sieht man aber, dass dieses Aktivsein bei vielen Älteren mit Rentenbeginn eher nachlässt und sie mit der vielen freien Zeit nicht zurechtkommen, oft sogar in ein Loch fallen. Was raten Sie solchen Menschen?

Vielleicht ist Reisen um die Welt nicht ganz das Richtige, in Corona-Zeiten sowieso nicht. Aber sie brauchen natürlich Ziele. Das ist das A und O … Wenn man kein Ziel oder keine Aufgabe mehr hat, dann ist das ganz schlimm. Das können Nachbarschaftsziele sein. Oder es kann sein, sich einmal die Woche einen Theaterbesuch zu gönnen. Jedem das Seine. Man kann da nichts Allgemeingültiges herausstellen. Jeder muss selber wissen, was er gerne mag. Vielleicht auch ein Ziel verbunden mit der Frage: Was kann ich für andere tun?

Sehen Sie, hier in der Nachbarschaft gab es mal eine Rechtsanwältin, Jahrgang '23. Sie hatte damals mit ihrem Mann zeitlebens ein kulturell sehr reiches Leben geführt. Als sie 83 war, starb der Mann und damit sackte auch ihr Bekanntenkreis ein. Sie blieb zunächst nur antriebslos im Bett und hat sich kaum gewaschen und gekämmt. Sie ließ sich lediglich von der Nachbarin Brötchen bringen. Als dann eines Tages der Hausarzt vorbeikam, meinte der, das sei eine beginnende Demenz. Die Nachbarin ließ sich daraufhin was einfallen: Sie ist zu einer Lehrerin, die sie kannte, hingegangen und hat über sie den Kontakt zu einem Flüchtlingsmädchen hergestellt, das Hilfe in Deutsch brauchte. Zu der 83-jährigen Dame meinte sie dann: "Frau Müller, ich hab eine Bitte an Sie: Da ist ein armes Flüchtlingskind, können Sie dem nicht Unterricht geben, einmal die Woche? Nur ein bisschen mit ihr lesen, denn die Eltern sprechen kein Deutsch. Wenn Sie das machen, helfen Sie dem Kind.“ Zunächst wollte die Dame nicht, aber die Nachbarin hat sie dann tatsächlich überredet und das Kind durfte kommen. Beim ersten Mal hat sie angefangen, die Wohnung aufzuräumen. Beim zweiten und dritten Mal dann hat sie sogar schon einen Kuchen gebacken. Sie hat so einen Spaß daran gefunden, dass sie das Mädchen sogar dreimal die Woche unterrichtet hat und die Mutter mit eingeladen hat. Sie hat für das Kind gesorgt und eine neue Lebensaufgabe gefunden. Eine Frau, die schon als dement aufgegeben worden war!

Neugierig geworden? Der vollständige Beitrag samt Interview ist nachzulesen im KUCK-Magazin Ausgabe 52 oder kann hier direkt heruntergeladen werden.